Ein Plädoyer für mehr Qualität – ein Gastbeitrag von der Seestraße7

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05 Jan Ein Plädoyer für mehr Qualität – ein Gastbeitrag von der Seestraße7

Zum alltäglichen Terror des Belanglosen gesellt sich immer häufiger die werblich verbrämte Müllvermeidungs/Upcycling/Biofasern und sonstwas Gesinnung im Umgang mit Bekleidung. Alles überhaupt nicht schlecht, ja sogar wichtig. Aber das ganze Gerede um Müllvermeidung und Recycling kann – zumindest im Textilsektor – gestrichen werden. Wie das? Genau dann, wenn Produkte lange leben und aus Materialien gefertig werden, die nicht auf den Sondermüll gehören und über die Zeit auch wirtschaftlich sinnvoll in Stand gehalten werden können.

Was ist mit dem Gütesiegel Qualität passiert?

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Gunnar Berendson

Wie faszinierend solche Erzeugnisse sein können, erleben wir ja gerade mit dem Vintage-Rummel. Hier werden Materialien wie Alpaca, Wolle und Merino mit großer Faszination gekauft, deren natürliche Eigenschaften heute von der chemischen Industrie und ein paar Qutdoor-Fanaten mit Patenten und viel Plastik imititiert werden. Kurzum: es geht um gebrauchte Kleidungsstücke, die sich im wesentlichen dadurch auszeichnen, dass sie auch nach ein paar Jahrzehnten immer noch gut aussehen.

Hinter diesem Effekt verbirgt sich die sogenannte Qualität, eine ehemals bedeutende Eigenschaft, die vor längerer Zeit durch “Marken” zugunsten von Marketing, Margenverbesserung und Logogröße beerdigt wurde.

Und nun: Es gibt sie noch die guten Dinge, aber leider nur auf dem Flohmarkt? Ganz so traurig sieht die textile Welt noch nicht aus, denn freie und selbständige Schneider, Schuhmacher, Täschner und Hemdenmacher arbeiten daran, diese Qualität auch weiter zu sichern. Natürlich wird das Thema heftig mißbraucht und nicht jeder, der im Setzkastenprinzip Anzüge zusammenbaut, ist auch ein Schneider.

Die Anzug-Rechnung: Warum sich billig oft nicht lohnt

Aber: wer heute in einen gut gemachten Anzug investiert, braucht sich viele Jahre keine Gedanken über seine Erscheinung oder irgenwelche Entsorgungsszenarien zu machen.

Beispiel A: Ein Anzug vom Maßschneider mit Weste

Ein Anzug mit Weste vom Maßschneider unseres Vertrauens kostet in unserer Rechnung mit einer zweiten Hose etwa 2.500 Euro. Wir gehen von einer zehnjährigen Tragezeit aus, durchschnittlich wird der Anzug 1,5 Mal pro Woche aus dem Schrank genommen. Urlaub zählt mit, denn auch hier kann ein Anzug oder eine Hose/Jackett ja nichts schaden. In einem Jahrzehnt ist der Anzug dann 780 Tage am Mann gewesen. Daraus errechnet sich ein Preis pro Nutzung von 3,20 Euro. Wir geben noch 150 Euro für Änderungen (Zu- oder Abnahme) und 100 Euro für Reinigung/Kleiderbürste (besser) hinzu, hier enstehen dann weitere Betriebskosten von 32 cent pro Nutzung.

Also: Um die 3,50 Euro pro Trageeinheit ist der Mann gut und mit gutem Gewissen bekleidet. Nach der Tragezeit geht das gute Stück in den Vintage-Seconhandladen, wo ein 30jähriger Referendar gerne 150 Euro für einen handgearbeiteten Klassiker spendiert.

Beispiel B: Ein Anzug von der Stange

Die Rechnung für einen Trugo Gloss Anzug für 680 Euro mit einer Lebensdauer von drei Jahren (weil dann glänzt er, denn das verwendete Material war nicht so gut, die geklebten Teile des Anzugs haben sich in unterschiedliche Richtungen verzogen und sorgen für eine Faltenwurf von den Schultern abwärts) sieht die Rechnung so aus: 2,90 kostet er den Träger pro Einsatz. Reparaturkosten entfallen im Hinblick auf den vermuteten wirtschaftlichen Totalschaden. Der Anzug geht zum Roten Kreuz und wird irgendwo in der Welt geschreddert um dann als Putzlumpen ein neues Leben zu beginnen.

Die Ökobilanz des Maßanzugs aus mitteleuropäischer Fertigung sieht natürlich auch deutlich besser aus, denn die nachwachsenden Rohstoffe (z.B. Wolle) sollten in Europa erzeugt und verarbeitet werden. Die Transportwege zwischen den jeweils günstigsten Produzenten und Verarbeitungsbetrieben zwischen China und Pakistan, die ja das Lebenselexier der Textilkontroller in solchen “Marken-Konzernen” sind, entfallen. So werden zusätzlich auch ein paar Kilo CO2 gespart und der eine oder andere Sozialstandard berücksichtigt.

Und was sagt uns das? Maßanzüge sind das neue Öko, Putzlumpen sind auch nur Anzüge und die Sondersteuer für Outdoor/Freizeitbekleidung aus Erdöl wird hiermit gefordert. Membran-oder Atmungsaktiv-Notopfer wäre ein schöner Begriff.

Der gesamte Beitrag erschien zuerst auf Seestraße7.de – das unabhängige Forum für Individualität, Eigensinn und Stil und stammt aus der Feder von Gunnar Berendson.

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